Wenn man seine grauen Zellen ab und zu kraulen lässt, ist das gut gegen Alzheimer. Was nach Utopie klingt, ist möglicherweise ein völlig neuer Ansatz zur Therapie der häufigsten Form von Demenz. Und zumindest in vitro, also im Reagenzglas funktioniert das bereits. Erfahren Sie mehr über diese fast unglaubliche Geschichte.
Manchmal kommt es auf die Länge an: Eine typische Nervenzelle
In der Phase der Neuralentwicklung, wenn sich zentrales Nervensystem und periphere Nerven ausbilden, erfolgt das stärkste Wachstum aller daran beteiligten Zellen. Wachsen bedeutet vor allem auch Strecken. Denn Nervenzellen sind nicht kompakt wie Blutkörperchen oder Hautzellen, sondern langgezogen und komplex strukturiert. Zellkern und „innere Organe“, die Organellen wie die Mitochondrien sitzen vor allem im eigentlichen Zellkörper, dem Perikaryon (griechisch für um den Kern herum).
Vom Perikaryon ausgehend verzweigen sich zahllose kleine Fortsätze in die Umgebung, die Dendriten (griechisch für Baum). Sie stellen den Kontakt zu anderen Nervenzellen über Synapsen her und erhalten von ihnen elektrische Signale, die sie weiterleiten.
Das geschieht mit einem Fortsatz auf der anderen Seite des Perikaryons, dem Axon (griechisch Achse). Ein Axon ist sozusagen das Kabel, das den elektrischen Impuls vom Dendriten und Perikaryon weiterleitet. Wie eine richtige elektrische Leitung hat es eine Isolierung, die Myelinscheide, damit es keine Kurzschlüsse gibt. Ein solches Axon kann sehr lang werden – beim Menschen findet man die längstem im Ischiasnerven mit einem Meter Länge!
Soziale Kontakte sind in jedem Alter wichtig – auch für Nerven
Ganz so lang sind die Nervenzellen im Gehirn nicht. Aber auch hier kommt es auf die Länge an – wenn es darum geht, gute Kontakte mit den Nachbarn einzugehen und zu erhalten. Gerade in der Entwicklungsphase ist das sehr wichtig. Denn der Embryo produziert Neuronen im Überschuss und lässt alle die zugrunde gehen, die nicht genug Kontaktstellen herstellen. Bis ins hohe Alter sind soziale Kontakte nicht nur für Senioren, sondern auch für die Nervenzellen in ihrem Gehirn lebenswichtig. Reißen diese ab, sterben die vereinsamten Zellen und sorgen dafür, dass es den verbliebenen Nachbarn ähnlich geht – einer der Mechanismen, mit denen sich eine Demenz im Gehirn ausbreitet.
Daher ist es für eine Nervenzelle wichtig, sich auch im hohen Alter noch mal lang zu machen, um gegebenenfalls neue Kontakte zu knüpfen. Das trägt zur Erhaltung der Menge an Zellen bei – als einziger Mechanismus, denn neue Nervenzellen entstehen nicht mehr.
Neuronale Netzwerke: Wichtig für die Kognition
Sich unabhängig vom Alter auszustrecken ist wichtig für Bildung und Erhaltung eines neuronalen Netzwerkes. Solche Nervenzellkontakte sind die Grundvoraussetzung für die Interaktion der Nervenzellen mittels schwacher elektrischer Signale. Diese Signalübertragung ist essenziell für Wahrnehmung, Denken und Erkennen – genau jene kognitiven Leistungen, die bei Alzheimer zusehends schlechter funktionieren. Wenn das Gehirn eines alternden Menschen immer wieder das Knüpfen neuer Zell-Zell-Kontakte schafft, beruht das vor allem auf Lernprozessen. Daher gilt sich geistig fit und rege zu halten als eines der besten Mittel gegen Demenz.
Wie neuronale Netzwerke entstehen
Wie das Wachsen und Strecken der Neuronen tatsächlich funktioniert, liegt bisher weitestgehend im Dunklen. Dass daran chemische Botenstoffe beteiligt sind, weiß man schon seit Jahren. Mittlerweile geht man davon aus, dass auch mechanische Reize an dieser Streckung beteiligt sind. Die neurologische Forschung einiger amerikanischer Wissenschaftler zeigt, dass so etwas der Fall sein muss.
Neurologie meets Computertechnologie: Die Spezialisten für magnetische Nanopartikel
Am Department of Electrical and Computer Engineering der Montana State University arbeiten Forscher um Assistant Professor Anja Kunze bereits seit einigen Jahren an der Entwicklung von magnetischen Nanopartikeln, die sie zur gezielten Manipulation von primären neuronalen Netzwerken einsetzen [1, 2, 3, 4]. Das geschieht mit Technologien, wie man sie aus der Computerbranche und der Herstellung von Mikroschaltkreisen kennt. Sie stellen mit dem entsprechenden Know-how Chips mit winzigen Magnetpunkten her und manipulieren damit Nervenzellen mit mikroskopisch kleinen magnetischen Partikeln in ihrem Inneren.
Chips: Magnete statt Schaltkreise
Für ihre Untersuchungen verwenden sie Chips – kleine Glasträger ähnlich wie Objektträger für Mikroskope. Ähnliches kennt man vom Computer und Handy aus der Halbleitertechnik. Bei diesen Spezialchips sind jedoch keine Schaltkreise aufgedruckt, sondern winzige Tropfen magnetischen Materials. In einem Magnetfeld konzentrieren diese Pünktchen die magnetischen Feldlinien, ähnlich wie man das von der Ausrichtung von Eisenspänen durch Magnete kennt.
Magnetische Nanopartikel in Nervenzellen
Wie schaffen es die Wissenschaftler, Nervenzellen magnetisch zu machen? Dazu verwenden sie isolierte Neuronen aus Rattengehirnen, die sie mit einer Lösung von Eisenoxid-Nanopartikeln tränken. Deren Größe liegt, wie der Name bereits andeutet, im Nanometer-Bereich – einem Millionstel Millimeter. Das ist so immens klein, dass die Nervenzellen die winzigen Partikel aufnehmen können.
So massiert man Gehirnzellen!
Diese präparierten Nervenzellen lassen die Forscher auf den Chips unter sterilen Bedingungen anwachsen. Dann übt ein über einen Computer beliebig manipulierbares Magnetfeld eine Kraft auf die Nanopartikel und damit auf die Nervenzellen aus. Wie sich die Struktur so behandelter Zellen verändert, lässt sich auf dem Glasträger unter speziellen hochauflösenden Mikroskopen beobachten.
Mit dem richtigen Chip-Design, also der Anordnung der Magnetpunkte auf dem Glasträger, und dem passenden Feintuning der magnetischen Kräfte lassen sich die Neuronen zum Ausstrecken bringen.
Was bringen die neuen Erkenntnisse?
Ihre aktuellen Forschungsergebnisse haben die Wissenschaftler um Anja Kunze noch nicht veröffentlicht. Man kann aber sicher davon ausgehen, dass das in nächster Zeit der Fall sein wird.
Vorerst ist der Erkenntnisgewinn wichtig für das Verständnis der Entstehung neuronaler Netzwerke als Voraussetzung für Denken und Kognition. Ebenso trägt ihre Forschung zur Erklärung vieler Hirnerkrankungen wie Alzheimer bei, bei denen es zu einem degenerativen Zusammenbruch dieses Netzwerkes kommt.
Denkbar ist eine klinische Anwendung, auch wenn das sicherlich noch Jahre dauert. Forschung an Nanopartikeln ist mittlerweile ein wichtiger Zweig der medizinischen Forschung. Sie ganz gezielt in bestimmte Zellen einzuschleusen ist eine hervorragende Methode, um beispielsweise Medikamente direkt an ihren Wirkungsort zu bringen. So etwas geschieht mithilfe spezieller Rezeptoren an der Zelloberfläche, die vorzugsweise nur bei einem bestimmten Zelltyp vorhanden sind. Das könnte man auch dazu nutzen, magnetische Partikel in Gehirnzellen einzuschleusen. Danach bestünde die Möglichkeit, diese Partikel in einem starken Magnetfeld, etwa einem Kernspintomografen (MRT) anzuregen und tatsächlich zu „massieren“. Vielleicht gehen unsere Gehirnzellen in einigen Jahren auch ins Fitnessstudio, um gesund und vital zu bleiben – warten wir es ab.
Literatur und Quellen
- Kunze A, Murray CT, Godzich C, Lin J, Owsley K, Tay A, Di Carlo D.
Modulating motility of intracellular vesicles in cortical neurons with nanomagnetic forces on-chip.
Lab Chip. 2017 Feb 28;17(5):842-854. doi: 10.1039/c6lc01349j. PDF>>.
- Tay A, Kunze A, Jun D, Hoek E, Di Carlo D.
The Age of Cortical Neural Networks Affects Their Interactions with Magnetic Nanoparticles.
Small. 2016 Jul;12(26):3559-67. doi: 10.1002/smll.201600673. Epub 2016 May 27. PDF>>.
- Tay A, Kunze A, Murray C, Di Carlo D.
Induction of Calcium Influx in Cortical Neural Networks by Nanomagnetic Forces.
ACS Nano. 2016 Feb 23;10(2):2331-41. doi: 10.1021/acsnano.5b07118. Epub 2016 Jan 28.
- Kunze A, Tseng P, Godzich C, Murray C, Caputo A, Schweizer FE, Di Carlo D.
Engineering cortical neuron polarity with nanomagnets on a chip.
ACS Nano. 2015;9(4):3664-76. doi: 10.1021/nn505330w. Epub 2015 Apr 1.